Interview

Isolde Ohlbaum: Die bekannte Münchener Fotografin hat ihre Familienwurzeln in Niederlindewiese

Isolde Ohlbaum ist eine weltbekannte deutsche  Fotografin mit sudetendeutschen Wurzeln. Ihre Mutter stammt aus Reichenberg, ihr Vater aus Niederlindewiese. Seit 1946 lebte die Familie in Bayern (zuerst in Moosburg an der Isar, später in München). Isolde ist im Jahre 1953 geboren.

Am Anfang ihrer Karriere widmete sich Isolde dem Bildjournalismus,  arbeitete u.a. für die Zeitschriften Spiegel und Stern. Vor ihrem Fotoapparat standen berühmte Persönlichkeiten wie David Bowie, Frank Zappa oder Klaus Kinski. Seit den 70er Jahren orientiert sie sich  vor allem an Porträts renommierter internationalen  Schriftsteller, darunter 19 Nobelpreisträger, z. B. Heinrich Böll, Günter Grass, Elfriede  Jelinek, Herta Müller, Doris Lessing oder Orhan Pamuk. Man bezeichnet sie als die bekannteste und begehrteste Chronistin der Literatur-Szene.

Für ihre Porträtarbeit sind typisch Respekt und persönliche Einstellung, die sich auch in den Fotografien widerspiegeln. Wie sie selbst sagt, es ist wichtig, sich auf die Persönlichkeit des Fotografierten einzulassen. Ihr geht es nicht darum, nur einen Schnappschuss zu machen, sie mag es, in die Tiefe zu gehen. Es gibt keine hässlichen Menschen, man muss  einfach das Positive und Vorteilhafte betonen.

Zu weiteren Themen  gehören z.B. Blumen, Skulpturen, Friedhöfe, Katzen, Kinder, Landschaften. Hier wirken Ihre Fotografien melancholisch, intim, sinnlich.  Sie spielt mit Licht und Schatten und feinsten Nuancen.

Mit großem Erfolg veröffentlichte sie zahlreiche Bücher und Kalender. Die Fotografien ergänzt sie regelmäßig mit Gedichten  und Zitaten aus der Weltliteratur. Ihre Bilder sind auf Ausstellungen in etlichen europäischen Städten zu sehen.

Wie sie selbst bekennt, hatte sie früher kein Interesse an ihren Familienwurzeln, sie war mit ihrem eigenen hektischen Leben beschäftigt. Zum Wandel kam es erst nach dem Tod ihres Vaters, damals reiste sie ins Altvatergebiet zum ersten Mal…

War es immer Ihr Wunsch, Fotografin zu werden?

Zum zwölften Geburtstag bekam ich von meinen Eltern einen Fotoapparat geschenkt und es war, als es um die Berufswahl ging, sehr früh schon klar, dass ich Fotografin werden wollte. Das habe ich dann letztendlich über einige Umwege auch wirklich geschafft.  Nach einer nach sechs Wochen abgebrochenen Fotolehre und nach einem Jahr als fille au-pair in Paris bewarb ich mich an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie. Die Monate bis zum Semesteranfang jobbte ich als Sekretärin in einem Münchner Verlag. Ich erwähne das, denn mein damaliger Chef war Tomáš Kosta.[1]

Wie hat sich Ihre Karriere entwickelt?

Der Anfang als freie Fotografin war schwierig und es gab Momente, da habe ich mehrfach überlegt, mir eine feste Anstellung zu suchen, doch irgendwie ging es dann immer wieder weiter und schließlich bekam ich Aufträge für Spiegel und Stern. Ich erinnere mich an eine der ersten Farbgeschichten über altes Spielzeug oder eine Reportage über die Zerstörung alter Bauernhäuser, aber auch an Termine mit Klaus Kinski und David Bowie. Mit der Zeit wurde das Porträt Schwerpunkt meiner Arbeit.

In München wurde 1972 die Autorenbuchhandlung gegründet und wenn die Schriftsteller zu Lesungen kamen, war das eine Möglichkeit, sie zu fotografieren. Wichtig war auch der Petrarca Preis, der an den schönsten Orten in Italien und Frankreich jeweils im Sommer von 1975- 1995 an internationale Lyriker vergeben wurde und bei dem ich von Anfang an mit dabei war. Bereits 1984 ist mein erstes Buch mit Porträts von Autoren der deutschsprachigen Literatur erschienen.

Wie kommt man dazu, Nobelpreisträger oder andere berühmte Persönlichkeiten zu fotografieren?

Manchmal waren es Aufträge der Verlage, manchmal war es mein Interesse. Zum Beispiel hat mich der Fischer Verlag gefragt, ob ich Nadine Gordimer, die südafrikanische Schriftstellerin fotografieren könnte. Da sie meine Fotos mochte, bekam ich auch in den nächsten Jahren Termine mit ihr.

Den ungarischen Schriftsteller Imre Kertész habe ich für mein Archiv fotografiert, als er in München ein Stipendium hatte und man ihn kaum kannte. Ich erinnere mich an eine Lesung von ihm in einer kleinen Buchhandlung. Wir waren insgesamt acht Personen. Ein Jahr später füllte er bereits einen Theatersaal. Wann immer ich in Berlin war, haben wir uns gesehen und manchmal auch neue Fotos gemacht.

Im Auftrag einer Literaturzeitschrift bin ich für einen Tag zu Doris Lessing nach London geflogen. Elias Canetti habe ich in einem Münchner Hotelzimmer fotografiert und J. M. Coetzee in der Nähe seines Münchner Verlagshauses. Bis jetzt zähle ich 19 Nobelpreisträger für Literatur in meinem Archiv, darunter Heinrich Böll, Günter Grass, Elfriede Jelinek, Herta Müller,  Kenzaburo Oé, Orhan Pamuk, Tomas Tranströmer.

Sie sind die Autorin des berühmten Bildbands Denn alle Lust will Ewigkeit: Erotische Skulpturen auf europäischen Friedhöfen. Wie ist die Idee entstanden?

1986 schwärmte mir die Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse von holzgeschnitzten und bunt bemalten Gartentoren in Ungarn vor und fragte, ob ich nicht mal etwas Anderes fotografieren wollte. 

Rudolf Ohlbaum (1912–2006)    gebürtig aus Niederlindewiese, war ein deutscher Publizist, Historiker und Schriftsteller. Nach dem Abitur am Realgymnasium in Freiwaldau hat er Geschichte und Philosophie an der Prager Universität studiert und 1938  den Doktortitel erhalten. Im gleichen Jahr wurde er von der Gestapo verhaftet. Während des Krieges musste er zur Wehrmacht einrücken. Nach der Entlassung aus der amerikanischen Gefangenschaft im Januar 1946 lebte er mit seiner Familie in Bayern.                                                Er war in der Redaktion der Zeitschriften Christ unterwegs und Volksbote tätig, redigierte Mitteilungen des Sudeten -deutschen Archivs und war Mitglied der Redaktion der landsmann – schaftlichen Zeitschrift Heimatbrief der Lindewiesner. Er ist auch Autor einiger Bücher, z.B. Verdienst um Österreich (Wien 1977), Bayerns vierter Stamm – die Sudeten -deutschen (München 1980) und Herausgeber der Anthologie „Bundes Glas und Schwarzes Gold“, für die er Beiträge u.a. von Otfried Preußler und Josef Mühlberger in Auftrag gab.               In seinem Werk widmete er sich den historischen und kulturellen Verbindungen zwischen Sudetendeutschen und Tschechen. Aufgrund der Erkenntnis der historischen Wahrheit bemühte er sich, gute Beziehungen zwischen diesen Nationen zu bauen. Nach 1989 beteiligte er sich an der sog. Iglau Begegnung der Historiker und war Mitglied der Freiwaldau Realschulen-Gemeinschaft.

Die Quelle: Za Rudolfem Ohlbaumem. Growka,K. In: Jesenicko : vlastivědný sborník / Jeseník : Vlastivědné muzeum Jesenicka 8, (2007), 

Gemeinsam fuhren wir nach Budapest. Aber wir fanden kein einziges dieser Gartentore mehr, man hatte sie durch hässliche Kunststofftore ersetzt. Ich habe vorgeschlagen, auf den Friedhof zu gehen. Meine Mutter war kurz zuvor gestorben, vielleicht war das mit ein Grund. Auf dem Friedhof sah ich zum ersten Mal diese sehr großen Frauenskulpturen aus Stein mit fast durchscheinenden Gewändern, was mich auf einem katholischen Friedhof überrascht hatte. Ich habe später in anderen Städten Friedhöfe nach Frauenskulpturen abgesucht und mich gefragt, was bleibt übrig von einem Frauenleben, was stellen Männer ihren oft jung verstorbenen Frauen aufs Grab. Manche Darstellungen waren sehr erotisch, und als ich einem Verleger davon erzählte, sagte er sofort: Abgabe Ende März! Ich bin einige Monate lang nur von Friedhof zu Friedhof gefahren. Von Brüssel und Amsterdam kenne ich nur die Friedhöfe. Parallel dazu habe ich Texte zum Thema Liebe und Tod ausgesucht. Ich war fast besessen von dem Thema und es war gut, dass die Zeit begrenzt wurde. Das Buch Denn alle Lust will Ewigkeit: Erotische Skulpturen auf europäischen Friedhöfen ist 1987 erschienen und war  damals eine kleine Sensation.

Und andere Themen Ihrer Fotografien?  

Ich habe immer wieder neue Themen gesucht, ob es nun Katzen, kleine Mädchen, Engelskulpturen, Menschen mit ihren Tieren oder Städtebilder von Berlin oder Lemberg und Czernowitz sind oder auch Blumen. Meine Fotos habe ich oftmals mit Texten von Schriftstellern aus der Weltliteratur ergänzt. Es ist erstaunlich, wie viel über Katzen, Engel und Blumen geschrieben wurde. Blumen fotografiere ich auch weiterhin, sie sind für mich eine Art Meditation. Und so entsteht jedes Jahr ein neuer Posterkalender.

Wenn Sie einen Schriftsteller fotografieren, wie bereiten Sie sich vor?

Grundsätzlich könnte man natürlich jemanden fotografieren ohne etwas über ihn zu wissen, doch dafür bin ich viel zu neugierig. Es ist meines Erachtens auch eine Frage der Höflichkeit.  Natürlich kann ich nicht alle Bücher eines Autors lesen, aber ich kenne mindestens ein bis zwei seiner Bücher und informiere mich im Vorfeld zu seiner Person.

Der amerikanische Autor Don DeLillo war bekannt dafür, dass er sich höchst ungern fotografieren ließ. Ich war überrascht, als ich mit ihm in Hamburg einen Termin bekam. Zur Begrüßung sagte er, dass meine Haare anders seien.  Ich wusste sofort, was er meinte. Es war eine Anspielung auf die Fotografin aus einem seiner Romane. Zum Glück hatte ich dieses Buch gelesen. Ein scheuer Schriftsteller, der nicht fotografiert werden möchte, wird von seinem Verleger zu einem Fototermin überredet und schickt ihm eine Fotografin in sein abgelegenes Haus. Sie hatte andere Haare als ich.

Ich habe in Jeseník Ihre Ausstellung im Rahmen des Festivals Im Zentrum besucht –mich muten Ihre Fotos sehr ruhig und natürlich an. Sollte ein Porträtfotograf auch ein bisschen Psychologe sein und eine entspannte Atmosphäre herstellen können?

 Jeder Fototermin ist anders. Jede Begegnung ist interessant und aufregend. Am liebsten würde ich Menschen in ihrer vertrauten Umgebung fotografieren, denn diese sagt ja auch einiges aus, doch das ist oftmals nicht möglich. Ich begegne vielen Schriftstellern auf Lesereisen oder Buchmessen. Hotelzimmer sind nicht immer der ideale Ort, daher arbeite ich gerne im Freien, zum Beispiel in einer Landschaft oder in einem Park. Ich liebe alte Türen, alte Mauern. Ich finde es wunderbar, wenn es Zeit für einen kleinen Spaziergang gibt. Und ich arbeite gern mit natürlichem Licht. Die Atmosphäre ist natürlich wichtig. Aber auch der Kontakt, der entsteht, denn letztendlich ist es ja ein seltsamer Vorgang. Man lässt zu, dass sich jemand ein Bild von einem macht. Meine Arbeit ist es, Vertrauen aufzubauen und die Skepsis gegenüber der Kamera zu nehmen.

Sie haben viele tschechische Persönlichkeiten fotografiert. In Ihrer Ausstellung in Jeseník, die im Rahmen des Festivals Im Zentrum/ V centru im Jahre 2019 stattfand, zeigten Sie eine Auswahl vor allem aus der literarischen Welt.

Als ich vor fünf Jahren zum ersten Mal im Altvatergebiet zu Besuch war, habe ich die Landschaft, Häuser und Friedhöfe fotografiert. Als mich Serafine Lindemann, eine der beiden Direktorinnen des Festivals Im Zentrum/ V centru zu einer Ausstellung einlud, dachte ich zuerst an diese Fotos von meinem ersten Aufenthalt, doch so recht glücklich war ich damit nicht, denn Verschwundenes sichtbar zu machen, ist mir, wie ich finde, nicht so recht gelungen. Als ich stattdessen meine Auswahl von tschechischen Schriftstellern und Prominenten traf, war ich selbst erstaunt, wie vielen von ihnen ich über die Jahre begegnet war.

Jan Skácel zum Beispiel habe ich drei Tage lang anlässlich des Petrarca Preises im Juni 1989 in Lucca in Italien erlebt, nur wenige Monate vor seinem Tod. Davor hat er an einer Jahrestagung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München teilgenommen, wo das Foto von ihm mit Ota Filip entstanden ist.

Patrice Chereau hat 1979 in der Inszenierung Charta 77 mit berühmten Schauspielern wie Simone Signoret und Maximilian Schell die Prager Prozesse nachgestellt. Pavel Kohout übernahm darin den Part von Vaclav Havel. Es gibt weitere Fotos von einem Besuch bei ihm Anfang der 80iger Jahre in seiner hübschen Wiener Dachwohnung und eine zweite Portraitserie ist während der Buchmesse im Frühjahr 2019 in Leipzig entstanden.

Ivan Klima war 1981 in München. Ein Foto aus dieser Serie wurde von seinem tschechischen Verlag als Titelfoto auf dem Buch „Moje šílené Stoleti II“ abgedruckt.  Vor vier Jahren habe ich ihn erneut in München fotografiert.

1995 wurde Václav Havel von Friedrich Schorlemmer für die Süddeutsche Zeitung interviewt, und ich bekam den Auftrag, das Gespräch auf der Prager Burg zu fotografieren.

Dass der berühmte Kinderbuchautor Otfried Preußler und Barbara König und auch Uwe Brandner in Reichenberg im Sudetenland geboren sind, wusste ich, doch es hat mich doch überrascht, dass Autoren wie Janosch,  Ernst Augustin und Franz Fühmann und einige andere ihre Wurzeln in der heutigen Tschechischen Republik haben.

 Ihr Vater stammt aus Niederlindewiese. Suchen Sie hier Ihre tschechischen Wurzeln?

Solange meine Eltern lebten, habe ich mich – wie es oft der Fall ist – um meine Familienwurzeln nicht viel gekümmert.  Ich war mit meinem eigenen Leben beschäftigt. Meine Mutter hatte zwar gelegentlich von Liberec, wo sie geboren ist, und von der Vertreibung erzählt und mein Vater von Niederlindewiese,  Jesenik und Prag, wo er studiert hatte. Jeschken und Altvater und viele Namen von Städten und Orten waren mir von Kindheit an vertraut. Im Gegensatz zu meinem Bruder kam ich allerdings nicht auf die Idee, meinen Vater zu begleiten, als er nach Jeseník fuhr. Heute bedaure ich das. Damals hatte ich noch kein Interesse, das hat sich eigentlich erst nach seinem Tod geändert. Mein Vater ist 2006 gestorben, mit 94 Jahren. Erst beim Sichten seines Nachlasses habe ich viel Unbekanntes entdeckt und ich wünschte, ich hätte mit ihm noch über das eine oder andere reden können. Einige seiner Erzählungen und Gedichte kannte ich, denn sie waren publiziert worden, doch ich war überrascht, wie viele Texte es von meinem Vater gibt, u.a. Kriegsaufzeichnungen, die ich zurzeit schriftlich übertrage.

Als ich zum ersten Mal in Jesenik war, traf ich Frau Tinzova, die Leiterin des Bezirksarchives. Von ihr und ihrem Kollegen bekam ich zu meiner Verwunderung einen Text meines Vaters überreicht, den man für eine Veröffentlichung ins Tschechische übersetzt hatte. Das hat mich sehr gerührt und gefreut. Es sind seine Erinnerungen an den Herbst 1938.

Können Sie uns mehr über Ihren Vater und Ihren ersten Besuch in Niederlindewiese sagen?

Mein Vater ist 1912 in Niederlindewiese geboren. Als er zwei Jahre alt war, begann der 1.Weltkrieg und sein Vater wurde zur österreichischen Armee einberufen und dann in Troppau und Jägerndorf für den Sanitätsdienst ausgebildet und später in Levico eingesetzt. Seine Mutter übernahm gezwungenermaßen den Krämerladen und hatte wenig Zeit für ihn. Mehr Zeit hat er mit seiner Taufpatin Philomena verbracht, die im Hause lebte und eine große Leserin war und ihm hunderte von Geschichten erzählt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass dies seine Liebe zur Sprache und zur Literatur sehr gefördert hat. In der dritten Klasse erkrankte mein Vater an Masern und Lungenentzündung und überlebte wie durch ein Wunder. Lungenentzündung war damals ja fast immer tödlich. Zwei seiner Brüder sind mit 16 Monaten und fünf Jahren daran gestorben. Nachdem er auch Ministrant war, überzeugte sein Religionslehrer die Eltern, ihn nach Weidenau ins Gymnasium zu schicken, um Priester zu werden. Priester, Kaplan, Seelsorger, Pfarrer, das waren damals erstrebenswerte Berufe. Weidenau kostete allerdings Geld und als die Eltern sich stark verschuldet hatten, entschied sich sein Vater gegen Weidenau, worüber mein Vater nicht unglücklich war. Er ging dann von 1924-1931 in das Staats-Reformgymnasium in Freiwaldau. Für den täglichen Schulweg von drei Kilometern kaufte ihm sein Vater nach einigen Monaten endlich ein Fahrrad.  Nach der Matura studierte mein Vater in Prag die Fächer Geschichte und Philosophie. Im Januar 1938 hat er sich mit der Arbeit Johann Rode aus Hamburg: von deutschem Geistesleben in Böhmen um 1400  habilitiert. Dann kam der Anschluß und er musste Prag verlassen und hat sich zu seiner Mutter nach Niederlindewiese durchgeschlagen. Ende Oktober wollte er wieder nach Prag zurückkehren und seine bibliographischen Arbeiten fortsetzen und weiterhin die Staatliche Archivschule in Prag besuchen. Als er einen Durchlaßschein beantragte, wurde er am 26. Oktober von einem Gestapomann verhaftet und erst, nachdem sich Professoren der Prager Universität für ihn eingesetzt hatten, nach fünf Wochen wieder freigelassen. Warum er auf der Fahndungsliste der Gestapo stand, hat er nie erfahren. Er habe im Verdacht „volksfeindlicher Betätigung“ gestanden. Ein paar Wochen war er unter Polizeiaufsicht und galt als „belastet“ und erst im März 1939 durfte er nach Reichenberg reisen und konnte noch kurze Zeit in der Buchhandlung eines Freundes arbeiten, bis auch diese im Mai 1939 geschlossen wurde. Zweimal wurde mein Vater während des Krieges verwundet. Im Lazarett besuchte ihn meine Mutter und im Oktober 1941 haben sie geheiratet. Bis Januar 1946 war er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und bekam Unterkunft in Moosburg. 1955 zog die Familie nach München. Erst in den 80iger Jahren hat er die erste Reise nach Prag und später nach Jesenik unternommen. 

Das Elternhaus von Rudolf Ohlbaum in Niederlindewiese - die Zeichnung, die Rudolf Ohlbaum in Kriegsgefangeschaft gemalt hat, und die historische Fotografie.

 

Rudolf Ohlbaum während der Studentenzeit in Prag. 

Das ehemalige Haus in Niederlindewiese am Bahnübergang war für mich leicht zu finden. Ich kannte davon Fotos und eine Zeichnung meines Vaters, angefertigt in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, wo er an einem Zeichenkurs teilnahm. Und es gibt eine Kindheitserinnerung:

„Ich paßte oft, wenn ich das Glockenzeichen gehört hatte, gespannt auf, ob die Schranken auch rechtzeitig geschlossen wurden, bevor ein Zug oder eine einzelne Lok vom Freiwaldauer oder vom Lindewiesner Bahnhof kam, um hier die Dorfstraße zu überqueren. Und manchmal, aber selten, wartete ich vergeblich und rannte dann selber zur Schrankenleier, um die Schranken zu schließen, damit nicht ein Zug oder eine Lok in ein die Schienen überquerendes Fahrzeug führe. Die Gelegenheit dazu hatte ich zwar nur selten, aber hin und wieder doch, und ich war dann glücklich, daß ich Fuhrwerkern, Radfahrern oder Fußgängern vielleicht das Leben retten konnte. Die Schrankenwärterleute sahen das freilich anders und tadelten mich mehrmals, daß ich für mich Verbotenes tue, wenn ich die Schrankenleier ohne Genehmigung betätigte. Aber ich selber war stolz, daß ich durch mein Tun manchmal ein Zugunglück verhindert und vielleicht Menschenleben gerettet hatte.“

Etwas Seltsames ist mir dann noch passiert. Es war der Tag meiner Rückreise von Jesenik. Ich fuhr durch Niederlindewiese, dem heutigen Dolní Lipová und wollte mir noch die Kirche anschauen. Allerdings konnte ich mit dem Auto nirgends halten oder wenden und so bog ich gegenüber der Kirche in einen schmalen Weg ein und fuhr bis zum Ende und wie selbstverständlich weiter bis zum hinteren Eingang des Friedhofs. Als ich an der Friedhofsmauer entlang ging, dachte ich, das Herz bleibt mir stehen, denn ich las etwas fassungslos auf dem vierten Grabstein „Hier ruhen die Brüder Josef und Johann Ohlbaum“. Es war das Grab meines Großvaters, den ich nie kennengelernt habe, weil er bereits 1933 gestorben ist, und seines noch früher verstorbenen Bruders. Mein Vater wusste nichts von der Existenz dieses Grabes. Es hätte ihn sehr gefreut.

[1] Tomáš Kosta (1925–2016) ein tschechoslowakischer Emigrant. Er hatte, wie auch sein Bruder, der Wirtschaftswissenschaflter Jiří Kosta, nach dem Prager Frühling die Tschechoslowakei verlassen. Auf Anregung Vaclav Havels half Tomas Kosta nach der demokratischen Wende von 1989 in Tschechien bei der Gründung des Atlantis-Verlags in Brno. Er wurde Berater von drei tschechischen Ministerpräsidenten für die deutschsprachigen Länder¨.
Das Grab der Brüder Johann und Josef Ohlbaum in  Niederlindewiese.

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